Mein Name ist Ernst Ruß. Ich stamme aus dem ehemaligen deutschen Gebiet Böhmens. Vater war Bergarbeiter. Mein Heimatort ist Mariaschein, landschaftlich reizvoll gelegen am Fuße des östlichen Erzgebirges. Er war ein bekannter Wallfahrtsort mit einer schönen Basilika minor.

Ich war ein guter Schüler und bestand auch die Aufnahmeprüfung für die Lehrerbildungsanstalt, die ich 1942 mit der ersten Staatsprüfung für das Lehramt an Volksschulen abschloss. Unmittelbar danach wurde ich zum Wehrdienst einberufen und kam nach der Ausbildung an die italienische Front. Hier wurde ich im Kampf kurz vor Kriegsende von Engländern gefangen genommen und nach Ägypten verfrachtet. Nach dreijähriger Gefangenschaft in der Wüste wurde ich im April 1948 entlassen.

Meine Eltern, die Haus und Heimat verloren, wurden nach Vorpommern vertrieben. Ich ließ mich aber zu meiner Tante nach Bayern entlassen, da ich nicht in die russisch besetzte Zone wollte. Mein Bemühen um eine Anstellung als Lehrer blieb erfolglos. Obwohl die Sudetendeutschen dem „vierten bayrischen Stamm“ zugerechnet wurden, beschied mir die Regierung in Regensburg, dass zunächst alle bayrischen Lehrer, die aus der Gefangenschaft zurück erwartet werden, eingestellt werden müssten. So nahm ich eine Arbeit in einer ehemaligen Aluminiumfabrik auf, die nur Kunstdünger herstellen durfte.

Im Dezember 1948 wollte ich meine Eltern besuchen. Zuvor schlug ich mich nach Burg bei Magdeburg durch, um meine Heimatfreundin wieder zu sehen. Mit ihr fuhr ich zu meinen Eltern nach Richtenberg bei Stralsund. Zurück in Burg erlebten wir eine Überraschung: ihre Eltern hatten den Haushalt aufgelöst, ihre Siebensachen auf ein kleines Handwägelchen geladen und wollten nach Westen zu ihrer schon vorher von der Ostzone abgesetzten Tochter ziehen. Ich schloss mich ihnen an. Auf der Bahnstation lösten wir Fahrkarten bis zu zwei Stationen vor der Grenze. Dann ging es zu Fuß weiter über Wiesen, Felder und Wald immer in Richtung Westen. Es war längst schon dunkel, als wir endlich auf eine gut ausgebaute Straße kamen. Bald war an ihr ein erleuchtetes Haus zu sehen. Wir freuten uns, denn wir meinten, es geschafft zu haben und im Westen zu sein. Vater Krombholz ging schnellen Schrittes auf das Haus zu, schaute ins erleuchtete Fenster und gab uns Zeichen, uns ruhig zu nähern: Es war der Granzposten im Osten! Da es Sylvesternacht war, feierten sie drinnen schön und wir überwandten die einfach markierte Grenze leicht, kamen zum großen Erstaunen beim Westposten an und erzählten von unserem großen Glück. Mit dem Zug fuhren wir nach Neuss.

Der sehr beengte Wohnraum der Tochter veranlasste mich, sofort nach Oberhausen-Osterfeld zu fahren, wo ein Kriegskamerad wohnte. Er half mir gerne, hier Fuß zu fassen, doch es war sehr schwierig. Zuzug gab es nur, wenn man Arbeit hatte, die man aber nur bekam, wenn man eine Wohnung nachweisen konnte. Mein Kamerad kam auf den Gedanken, beim katholischen Ledigenheim vorzusprechen. Die Schwestern nahmen mich auf und so konnte ich jetzt als Einwohner der britischen Besatzungszone bei der Regierung in Düsseldorf vorstellig werden.

Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, dass gerade ein Schulrat anwesend war, der für Kinder aus der Tschechoslowakei (!) – es waren Familien aus der deutschen Sprachinsel Krickerhau - einen Lehrer suchte. Er war der Schulrat Dölken aus Dinslaken.

Nach Einsicht in mein Originalzeugnis, nach einigen Fragen und seiner Bereitschaft, mich zu nehmen, überraschte er mich auf meine Frage nach dem Zeitpunkt der Einstellung mit der Antwort: nächste Woche! Da ich nach zwei Wochen noch keine Nachricht erhielt, fuhr ich zum ersten Mal nach Dinslaken und musste mir sagen lassen, dass es bis zur Anstellung noch einiger Beschlüsse bedürfe. In unguter Erinnerung an Regensburg nahm ich sofort bei der Baufirma Küppers in Osterfeld eine Arbeit auf. Meine erste Tätigkeit in NRW war die Enttrümmerung einer Schule. Im März 1949 bekam ich endlich die Einweisung in den Schuldienst der Gemeinde Voerde.

Schon im Mai 1949 konnte ich Eltern und Großmutter nach Voerde holen. Bergwerksdirektor Dr. Barking, bei dem ich vorstellig geworden war, versprach uns eine Wohnung in den Baracken für Bergarbeiter im Buschmannshof und stellte meinen Vater in der Zeche Walsum ein. So waren wir nach sieben Jahren wieder zusammen.

Die einzige Schule im Ortskern war die evangelische Pestalozzischule. Im Dezember 1949 wurde dann die katholische Volksschule im gleichen Gebäude gegründet. Sie, die katholische Schule, bestand aus drei Klassen mit 127 Schüler/Innen im Alter von 6-14 Jahren. Die kommissarische Leiterin war eine Kollegin aus Westpreußen. Der Kaplan aus Eppinghoven übernahm den Religionsunterricht. Ich hatte als Junglehrer, der noch in der Ausbildung vor der zweiten Lehrerprüfung stand, ein gemischtes 3./4. Schuljahr zu führen, außerdem noch Unterricht in der Oberstufe zu geben.
jahrgang 53 russ
1953 legte ich meine zweite Staatsprüfung ab, heiratete eine Kollegin aus Walsum und bezog ein Eigenheim in Voerde. Unsere fünf Kinder besuchten alle das Gymnasium in Voerde.

Nach 38 Dienstjahren in Voerde wurde ich 1987 als Rektor der Otto-Willmann-Grundschule verabschiedet. Ich war gerne Lehrer und danke Gott, dass mich sein Weg nach Voerde führte. Ich liebe den Niederrhein und die Menschen; die wurden mir zur Heimat.

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